Tabu-Themen

Es gibt in jeder Gesellschaft Tabu-Themen, das heißt Themen, die man nicht ansprechen sollte, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Heute bringt man wegen solcher Themen – zumindest in unseren Breiten – niemanden auf den Scheiterhaufen. Aber die Menschen, die sich in der Mehrheit sehen, geben ihm auch hier zu verstehen, dass das, was er gesagt hat, peinlich und dumm ist, darüber hinaus nicht hilfreich war. Das kann bis zu gesellschaftlichen Ausgrenzungen führen. Ich werde in diesem Artikel keine Beispiele nennen – Sie alle haben Themen vor ihrem inneren Auge, von denen Sie denken: Na, da sage ich lieber nichts zu – obgleich Sie die Menschen bewundern, die den Mut haben, doch das jeweilige Thema anzusprechen.

Das Wort „Tabu“ kommt aus Polynesien – und bedeutete, dass man bestimmte Dinge nicht sagen und tun durfte, um nicht den Zorn der Götter und ihrer menschlichen Vertreter auf sich zu laden. Wie alles, wurde bei uns auch die Vorstellung säkularisiert. Das bedeutet: Da man an Götter nicht mehr glaubt, hat man die Vorstellung verweltlicht. So erging es zum Beispiel auch der Endzeitvorstellung, der Apokalypse. Ursprünglich bedeutete sie, Gott wird den Ungerechtigkeiten und Gesetzlosigkeiten ein Ende bereiten und eine neue, gute, gerechte Welt schaffen. Apokalypse war somit Mahnung und Trost. Dann löste man sie von Gott, man hat die Mahnung beibehalten – und nur der gewaltsame Tod ist im Blick: Wenn ihr euch nicht besser verhaltet, Müll trennt und CO2 vermeidet, dann gibt es Eiszeit, Hitzetod und Waldsterben – das sagen alle Wissenschaftler; oder man sagt geschäftsfördernd, ohne die Verhaltensänderungen zu betonen und nur die Ängste schürend: Meteore kommen und legen alles in Schutt und Asche oder die Prophezeiungen der Mayas oder die von Nostradamus werden sich erfüllen. Wenn heute Tabus gebrochen werden, dann strafen nicht mehr die Götter, sondern nur noch die Menschen. Wie so mancher unserer Vorfahren schon wusste: Besser ist es, in die Hand Gottes zu fallen als in die Hand der Menschen.

Tabus wurden also von Göttern gelöst. Wie alles Religiöse hat auch das Tabu soziale Hintergründe. Es soll die Einheit der Gruppe fördern. Und wenn die Einheit der Gruppe hergestellt ist, dann kann man besser miteinander handeln. Das ist für unsere Vorfahren überlebenswichtig gewesen. Man wird militärisch schlagkräftiger – auch tabuisierte Hierarchien fördern das Überleben von gefährdeten Gruppen. Da kann dann nicht irgendeiner daher kommen und sagen: Hallo, Leute, es ist alles ganz anders! Hallo, Ihr Reichen, gebt den Armen was ab! Hallo, Ihr Mächtigen, ordnet euch dem Volk unter! Und wenn einer daher kam und das machte, dann gab es mächtig Ärger. Die alten Propheten mussten ihn erleiden, Martin Luther musste ihn erleiden, Aufklärer, Gandhi – und viele, viele andere überall auf der Welt. Tabus haben also ihren Gruppen stabilisierenden Sinn – sind in unserer offenen Gesellschaft allerdings eher Relikte aus vor-aufklärerischer Zeit. Doch warum hält man heute noch so gerne an solchen Relikten fest? Ganz einfach: Man muss nicht argumentieren. Wenn die mächtigen Strömungen der Gesellschaft sagen: So ist es, wenn sich Meinungsführer viel Mühe machen, eine bestimmte Weltsicht durchzusetzen, dann muss man nicht mehr argumentieren – bzw.: Wehe dem, der dennoch argumentiert! Manche Menschen sind dann so mutig und sagen: Das darf man ja nicht sagen, was ich jetzt sage. Und dann sagen sie es und finden Bewunderer, weil sie etwas gesagt haben, was die Meinungsbeherrscher nicht gesagt haben wollten. Mit der Zahl der Bewunderer wächst auch die Zahl der Angreifer. Und das Spielchen beginnt, wie nicht nur Kämpfer der 68ger wissen. Was ist, was die Angreifer zuerst sagen? Du sagst, das darf man nicht sagen? Aber du sagst es ja, also darf man es auch sagen – und jetzt halte den Mund, denn das, was du sagst, ist als Problem altbekannt – nur du bist in dieser Hinsicht nicht hilfreich. Punkt.

Aber die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen bekommen viele Menschen nicht so recht mit, weil sie sich in den Kreisen bewegen, in denen man Tabulos über diese Themen spricht – freilich wieder neue Tabus aufgebaut haben. In einem Fußballfanverein darf man alles – nur nicht die eigene Mannschaft beschimpfen (es sei denn, nur ganz kurz, wenn es wirklich nicht anders geht, oder wenn alle es aus einer emotionalen Schieflage tun). Es gibt somit Gruppentabus und gesellschaftspolitische Tabus.

Dann gibt es auch ortsgebundene Tabus. So darf man an manchen Orten über Gott sprechen – an anderen wieder nicht. Oder: Es wird von einem Pfarrer erwartet, dass er an bestimmten Orten und zu bestimmten Anlässen von Gott spricht – aber wehe, es tut ein Nichtpfarrer oder der Pfarrer tut es zu einem anderen Anlass. Und hier mischt sich schon das, was man mit „das tut man aber nicht“ bezeichnen kann, ein:  An einem FKK-Strand liegen und springen alle in fröhlicher Freiheit so wie Gott sie erschaffen hat und wehe, ein Angezogener legt sich dazwischen – und umgekehrt: Wehe, sie rennen unbekleidet durch die Stadt – es sei denn, es handelt sich um ein vorher angemeldetes Event. Das heißt, es gibt auch Tabus, die nicht Meinungen im Blick haben, sondern die eingebürgerten Sitten beschützen sollen. Aber das wäre ein anderes Thema.

Zurück zu den Tabus: Tabus betreffen eher Meinungen und die daraus folgenden Verhaltensweisen, während „das tut man aber nicht“ konkrete Verhaltensweisen im Blick hat. Nun schützt aber unser Grundgesetz die Meinungsfreiheit, die anderen möglichst nicht die Würde nimmt. Aber darf somit auch jeder sagen, was er meint? Ja, natürlich. Nur muss er auch in unseren Breiten bei manchen Aussagen die möglicherweise ungemütlichen Konsequenzen berücksichtigen. Bei welchen? Die Tabu-Themen, liebe Leserinnen und Leser, müssen Sie selbst herausfinden, wenn Sie diese denn nicht schon kennen.

Übrigens ein Tipp für die Linken und Rechten, die Gläubigen und Nichtgläubigen, die Gleichgültigen und Tausendsassas, die Fortschrittlichen und Konservativen: Unsere Gesellschaft lebt von den Mutigen, den Menschen, die fröhlich und gelassen sagen, was sie denken. Je mehr es nicht wagen, desto leichteres Spiel haben die Andersdenkenden. Und: Es wäre schön, wenn wir gelassener mit Andersdenkenden umgehen würden – das entspräche dem Geist unseres Grundgesetzes.  

Dr. Wolfgang Fenske (3.10.2011)