Wutbürger – Juchtenkäfer und die deutsche Psyche

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut – so schrieb Goethe. Edel sei der Mensch… – ich bin wahrscheinlich sehr stark von Karl Mays Winnetou geprägt, denn ich denke an die Tugenden des Individuums, an die Rittertugenden, als da sind: Zurückhaltung, Großzügigkeit, Anstand, Freundlichkeit, Würde, Treue, Höflichkeit und natürlich Tapferkeit. Diese Tugenden sind ein Echo der Tugenden, die der Apostel Paulus als Maßstab für Christen nennt: Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Besonnenheit, Selbstbeherrschung. Da ich sehr auf das wohlerzogene, zurückhaltende Individuum fixiert bin, bin ich ein ungeeigneter Autor für diesen Artikel. Weil ich darum gebeten wurde, wage ich es dennoch, ihn zu schreiben.

Meine erste Erfahrung mit dem Wutbürger trug nicht dazu bei, ihn lieben zu lernen. Ich lernte ihn auf meiner ersten und letzten Teilnahme an einer Demonstration kennen: Es ging, wenn ich mich recht erinnere, Anfang der 70ger um eine Demonstration für Sitzblockaden vor Straßenbahnen und amerikanischen Kasernen. Schüler der Prälat Diehl Schule (damals noch in dem Gebäude der heutigen Luise Büchner Schule) zogen in einem Demonstrationszug in die Innenstadt von Groß-Gerau und genossen auf diese Weise den unterrichtsfreien Tag. Nun, meine Freunde und ich zogen mit und hatten unseren Spaß. Aber es war der linke Block in dem Demonstrationszug (damalige Fans der KPD, DKP, von Mao, Che Guevara und Enver Hodscha) anwesend – und da, wo die auftauchten, gab es immer rote Fahnen, Geschrei und Lärm. Ehrlich gesagt, vermiesten sie auf peinliche Weise unsere Freude am unterrichtsfreien Demonstrieren. Und das prägt mich bis heute: Wenn Menschenmassen auftreten, da halte ich mich lieber fern. Eintreten für Menschenrechte, Eintreten für Umwelt, Eintreten gegen Tierquälerei, ja – aber auf individueller Ebene.

Nun ist mir freilich bewusst, dass eine dominant auftretende Gruppe wirkungsvoller zu sein scheint. Wenn ein einzelner Mensch für Gerechtigkeit wirkt, dann ist das auf den ersten Blick weniger wirkungsvoll, als wenn viele, viele Menschen sich versammeln und mehr oder weniger lautstark ihre Meinung kundtun. Dann ist das Fernsehen da, sind die Radiosender da, die Reporter von den Zeitungen – und wenn es sich lohnt, wird das alles auch gesendet und alle Welt denkt: Wow, die Mehrheit der Bevölkerung ist für oder gegen das, was da lautstark angesprochen wird. Auch dann, wenn die Mehrheit eher schweigsam ist und denkt: „Ich will nichts als meine Ruhe“ – oder denkt: „Das, was die da herumbrüllen, ist meine Meinung nun wirklich nicht!“ Aber das will man öffentlich nicht so wahrhaben, denn öffentlichkeitswirksamer ist: Der Wutbürger – eine Ansammlung von Menschen, die sich lautstark für oder gegen etwas einsetzen. Und das Problem ist, dass Wutbürger wie wütende Individuen für alles Mögliche emotionalisiert und darum auch instrumentalisiert werden können. – Man merkt mir sicher wieder an, dass ich ein zwiespältiges Verhältnis zu Massenansammlungen habe.  

Nun kann es sein, dass sich die Wutbürger als Mehrheit artikulieren, die die Minderheit drangsaliert, so dass die einzelnen Bürger mit anderer Meinung nicht geachtet werden. Und diese Bürger werden zu Bürger in Wut. Das hat nicht unbedingt etwas mit den Wutbürgern zu tun, sondern so bezeichnen sich Menschen, die versuchen, auf der Ebene von Bürgerinitiativen bzw. Parteien sich in der Politik gegen Missstände einzusetzen. Sie sind eine Mischung zwischen Individuen und Gruppe. Überall da, wo das Individuum eine Rolle spielt, muss es für das einstehen, den Kopf hinhalten, für oder wogegen es auftritt. Menschen in großen Demonstrationen können nicht unbedingt zur Verantwortung gezogen werden, denn man versteckt sich in einer Gruppe und fühlt sich dort verhältnismäßig sicher – auch wenn Wasserwerfer die Ansammlung zu einem Abenteuer werden lassen können. Ob nun Bürger in Wut oder Wutbürger: Wofür oder wogegen sie sich auch immer einsetzen – das muss nicht von allen geteilt werden.

Feenbeauftragten in Island müssen dafür sorgen, dass Feen durch Bauvorhaben in ihrer Behausung nicht gestört werden, darum muss – so las ich – die Straße um die Wohnung einer Fee herumgebaut werden. Es ist eine Art Symbiose von Feen und Naturschutz. Entsprechend können sich Wutbürger Verbündete suchen, zum Beispiel: Juchtenkäfer. Den Juchtenkäfer nenne ich darum, weil die Wutbürger und der Juchtenkäfer mit Blick auf den Kampf um den Bahnhof in Stuttgart eine Art Symbiose gebildet haben: Was ist hier der Juchtenkäfer ohne Wutbürger, was ist der Wutbürger ohne Juchtenkäfer? Was sind sie an anderen Orten ohne Großtrappen, Kammmolche und Gelbbauchunken?

Das Wort „Wut“ hat einen schalen Beigeschmack: blind vor Wut… Das Hirn wird ausgeschaltet, man will mit dem Kopf durch die Wand, achtet nicht mehr das Recht des anderen, rast nur wie ein wildgewordener Stier auf die Tücher zu, die ihnen in den Weg kommen. „Wehe, wenn sie losgelassen“: Wenn sich einige in blinder Wut zusammentun, dann kommt es zu Ausschreitungen übelster Art. Dagegen hat das Wort „Mut“ einen positiven Klang: Ein mutiger Mensch bleibt Individuum, das mit anderen gemeinsam überlegen handelt. Er steht für das ein, was er sagt und tut, er lässt andere zu ihrem Recht kommen, respektiert ihn, auch wenn er sein eigenes Ziel nicht aus dem Auge lässt. Er überlegt nur: Wie komme ich mit dem anderen ans Ziel – und nicht gegen den anderen, wie baue ich auf ohne zu zerstören. Eine bewundernswerte Mischung zwischen mutigem Wutbürger und dem besonnenen und phantasievollen Handeln vieler Menschen zeigte sich in dem Kampf gegen das DDR-Regime. Nicht vergleichbar, aber dennoch aufgrund des Bürgerprotests sehe ich die Mischung von Wutbürger und besonnenem Handeln vieler einzelner Individuen in der Auseinandersetzung um das Nachtflugverbot. Es hat sich also im Wesentlichen eine zivilisierte Umgangsform auch mit Blick auf Demonstrationen herausgebildet. Gegen diese zivilisierten Umgangsformen ist jedoch das zu nennen, was zurzeit unter dem Namen „Anonymous“ läuft: Hier können sich Individuen durch Denunziation aufspielen. Unliebsame Meinungen werden anonym an den Pranger gestellt.

Doch was hat das alles mit der Psyche des Deutschen zu tun? Soweit ich meine lieben Landsleute einschätzen kann, gibt es unter ihnen Wutbürger, die in Massen für Veränderungen oder für Beibehaltung der Traditionen eintreten, und es gibt einzelne Individuen, die mit anderen ihre Stimme erheben und Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen suchen – und das auch nicht wirkungslos, nur stiller, wenn ich da zum Beispiel an Amnesty International oder die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte denke.

Übrigens: Ich habe doch noch an einer weiteren Demonstration teilgenommen: An der Lichterkette in München angesichts des fremdenfeindlichen Brandanschlages in Solingen. Da waren alle Menschen sehr still. Ich vermute einmal, dass das nicht allein an der Situation lag, sondern auch daran, dass der normale Bürger, der demonstrieren nicht gewohnt ist, die Mehrheit bildete, um gegen Rechtsradikalismus einzutreten. Diese Menge an Menschen machte keine Angst und wollte auch keine Angst machen, sondern war beeindruckende und wirkungsvolle Artikulation von Menschlichkeit.