Warum protestieren Protestanten (Evangelische Christen)?

Uns Christen wurde das Protestieren mit in die Wiege gelegt: Jesus protestierte gegen Unmenschlichkeiten seiner Zeit, Paulus protestierte gegen fesselnde Gesetzlichkeit seiner religiösen und politischen Umwelt. Und so ist es bis heute geblieben. Man protestiert als Protestant gegen Ungerechtigkeiten aller Art. Christen protestieren gegen eine „Kultur des Todes“ (Papst Johannes Paul II.). Immer dann, wenn negative Handlungen bevorzugt werden, sieht man die Protestanten (rein theoretisch) auf den Barrikaden: gegen Abtreibungen, Sterbehilfe, Selbstzerstörung, Missachtung der Menschenrechte und der Umwelt. Sie vertreten eine „Kultur des Lebens“ – Christen aller Konfessionen setzen sich für sie ein. Damit habe ich die Bedeutung des Wortes „Protestant“ erweitert. Ursprünglich handelt es sich um einen politischen Begriff. Er brachte den Kampf evangelischer Kirchen gegen die römisch-katholische Kirche zum Ausdruck. Aber nicht nur evangelische Christen protestieren gegen Missstände, gegen die „Kultur des Todes“, sondern auch römisch-katholische Christen.

Jesus und Paulus protestierten nicht nur, sondern setzten den Missständen etwas entgegen. Und so ist es auch bis heute: Luther protestierte nicht nur gegen Missstände in der römisch-katholischen Kirche, sondern wurde aktiv;  die bedeutenden Menschen der Diakonie/Caritas protestierten nicht nur, sondern: Sie handelten mit viel Phantasie und großem Einsatz gegen Missstände: Wichern, Francke, Kolping, Mutter Teresa und viele, viele andere prangerten nicht nur Missstände an, sondern suchten nach praktikablen Alternativen. Nun, da hapert es bei so manchem Protestanten, der lieber gegen etwas  ist und protestiert, ohne jedoch sagen zu können, welcher andere Weg eigentlich besser ist, geschweige denn, dass er diesen besseren Weg auch aktiv geht. Es ist (ich sage es aus eigener Erfahrung) leichter zu protestieren, als in täglicher Kleinarbeit das Gute auch wirklich umzusetzen.

Mancher berauscht sich auch am Protestieren. Er setzt sich für die Minderheiten gegen die Mehrheit ein – so sehr, dass er sie gegen deren Willen verklärt und sie nicht mehr als Menschen mit ihren Stärken und Schwächen wahrnimmt. In solchen Fällen bestätigt man sich selbst in seinem protestierenden Gutsein. Das wird mit dem witzigen Bild dargestellt: Der gute Mensch hilft der alten Dame unter Einsatz seines Lebens über die viel befahrene Straße – obwohl sie diese gar nicht überqueren wollte. Kurz: Protestieren verhilft dazu, dass man sich gut fühlt – und darum protestiert auch so mancher, einfach um zu protestieren. Wer fühlt sich nicht gerne bestätigt und wichtig, vor allem auch dann, wenn er es in einer Gruppe Gleichgesinnter tut?

Noch etwas ist mit dem Protestieren mitgegeben: Nicht jeder ist einer Meinung. Der eine Protestant protestiert gegen X – der andere protestiert für X. Und so gibt es auch heute massive Meinungsverschiedenheiten unter Protestanten: wenn wir an die Abtreibungsfrage denken, an die Stellung der Homosexualität in der Gesellschaft, an das Thema Muslime und: Einwanderungsgesellschaft ja oder nein?, an Sterbehilfe, an wissenschaftliche Errungenschaften (Genforschung), an den großen Komplex der Energie und Hartz IV. Da findet man dann Protestanten auf allen möglichen Seiten protestieren.

Wie kommt das? Der Christ ist ein freier Mensch – und der Protestant weiß: Es ist gut, für den anderen Menschen einzutreten, Missstände abzutragen, sich für die „Kultur des Lebens“ einzusetzen  – aber in der Beurteilung dessen, was der Gesellschaft dienlich ist, sind wir doch letztlich zu sehr an unsere jeweilige politische Heimat und an unser Gefühl gebunden. Manchmal würde die Frage weiterhelfen: WWJD – das heißt: What would Jesus do? (Was würde Jesus tun?) Freilich: Jesus kannte zum Beispiel unsere Energieproblematik nicht. Und da zählt dann das verantwortungsvolle Abwägen. Gesetzlichkeit lag Jesus wie Paulus fern. So rät der Apostel Paulus: „Orientiert euch an dem, was wahrhaftig ist, was gut, was gerecht, was anständig, was liebenswert, was schön ist.“ (Brief an die Philipper 4,8) So mancher Protestant würde von sich aus lieber gegen X protestieren – tritt dann aber, wenn er im jesuanischen Sinn verantwortungsvoll denkt, doch für X ein. Darin unterscheidet er sich nicht von anderen Menschen, die sich verantwortungsvoll für unsere Gesellschaft einsetzen. Darum geht es letztendlich: Das zu erkämpfen, was den Menschen unserer Gesellschaft zu einem besseren Leben hilft. Weil niemand die Weisheit mit Löffeln gefressen hat, ist es auch für den Protestanten wichtig, mit Menschen, die ganz anderer Meinung sind als er selbst, zu reden – und nach guten Lösungen zu suchen.